Land des Himmels und der ewigen Weiten
Die schneebedeckten Berge der Rocky Mountains verschwinden allmählich als blasse Silhouette in unseren Rückspiegeln. Nach nunmehr einem Vierteljahr mit den Motorrädern unterwegs durch Amerikas äußersten Norden, halten wir jetzt auf die große weite Ebene zu. Wie ein Meer aus Gras breiten die „Great Plains“ sich mit Dimensionen vor uns aus, wie man sie sich in Europa kaum vorzustellen vermag.
Als wir am Morgen südlich der Nationalparks von Banff und Jasper gestartet sind, hatten wir noch die Befürchtung, dass die Landschaft deutlich an Reiz verlieren würde. Sehr schnell stellen wir nun jedoch fest, dass dem nicht so ist. Sie wird ganz einfach nur anders und ihr Reiz liegt jetzt vielmehr in der Begegnung mit dieser unglaublichen Weite, der riesigen Fläche und dem unendlich erscheinenden Horizont.
Der dramatische Landschaftswechsel, der sich binnen weniger Kilometer vollzieht, ist aber nicht die einzige Veränderung. Mit Temperaturen die das Thermometer über die 25-Grad-Marke klettern lassen, hat der Sommer nun endlich Einzug gehalten. Zum ersten Mal seit Beginn dieser Reise knöpfen wir die wärmenden Innenfutter aus unseren Motorradjacken und verstauen sie ein für alle Mal in unseren Seitenkoffern. Mit gemächlichem Tempo rollen wir auf Calgary, die Hauptstadt Albertas zu. Drei Tage wollen wir dort bleiben und zum ersten Mal seit langem nochmal die Vorzüge des Stadtlebens genießen. Anstatt des Anblicks hoher Berge recken sich jetzt die Verwaltungstürme der Ölfördergesellschaften vor uns in den Himmel.
Mit knapp einer Millionen Einwohnern ist Calgary das aufstrebende Energie-, Industrie, und Farmzentrum des Landes. Berühmt wurde die Stadt neben den Olympischen Winterspielen im Jahr 1988 vor allem auch durch die alljährlich im Sommer stattfindende „Calgary Stampede“, das größte Rodeo der Welt. 1,5 Millionen Westernfans aus aller Welt strömen jedes Jahr Anfang Juli in die Stadt, um bei diesem außergewöhnlichen Zehn-Tage-Spektakel Wagenrennen, Rodeos, Bullenreiten und Paraden zu verfolgen.
Eigentlich hatten wir geplant, auf dem Weg durch Kanada dem berühmten Trans-Canada-Highway zu folgen, einer über 8000 Kilometer langen Traverse, die Kanadas Atlantikküste mit dem Pazifik verbindet. Doch bei allem Respekt vor dem klangvollen Namen des Highways, stellen wir schnell fest, dass wir besser einen Bogen um ihn machen sollten. Die meisten Verkehrsteilnehmer, allen voran die riesigen Trucks, die uns teilweise mit bis zu 130 km/h überholen, nutzen den „TCH“ wirklich nur um schnell von A nach B zu gelangen. Da wir jedoch nicht unter Zeitdruck leiden und auf keinen Fall nur monoton Kilometer fressen wollen, verlassen wir die vielbefahrene Ost-West-Achse wieder. Wir schalten einen Gang zurück und weichen etwas weiter südlich auf kleine Straßen aus, die einem klassischen Roadmovie entstammen könnten.
Ohne festes Ziel folgen wir diesen Traumstraßen gen Osten. Dabei erleben wir die unglaubliche Dimension Nordamerikas, die einem wohl erst dann so richtig bewusst wird, wenn man diesen Teil des Kontinents der Länge oder Breite nach durchquert. Entfernungen geben die Leute in dieser schier endlosen Weite nicht wie bei uns in Kilometern an, sondern in Stunden, die man mit dem Auto brauchen würde.
Etwa 200 Kilometer südöstlich von Medicine Hat führt uns der „Red Coat Trail“ in den „Cypress Hills Interprovincial Park“ – ein naturgeschütztes Hochplateau, das sich wie eine kühle, mit dichtem Wald bewachsene Oase in der weiten Ebene erhebt. Eine artenreiche Pflanzen und Tierwelt ist auf dem Plateau heimisch, das den Sioux-Indianern jahrhundertelang als Jagdrevier diente. Im Jahre 1870 verübten Whiskeyschmuggler aus den nahen USA hier ein grausames Verbrechen an einer Gruppe Indianer. Die feigen Morde hatten zur Folge, dass die kanadische Regierung ein Fort errichten ließ und Soldaten entsandte, um die Region besser kontrollieren zu können. Die „Red Coats“, die sich damals in einem über 1000 Kilometer langen Marsch von Winnipeg aus zu Fuß auf den Weg machten, waren Vorgänger der später daraus entstanden „Royal Canadian Mounted Police“, besser bekannt unter dem Kurznamen „Mounties“, Kanadas berühmte Polizisten mit den prägnanten Uniformen und dem romantischen Image. Fort Walsh war neben Fort Calgary – aus dem die Metropole entstand – ein wichtiger Standort, um die spätere Besiedelung Kanadas zu ordnen. Heute ist die ehemalige militärische Befestigungsanlage ein Museum, dessen Besuch selbst eine weite Anreise lohnt. Wir jedenfalls haben großen Spaß daran, an der interaktiven Geschichtsstunde teilzunehmen, in der mein Freund Alain als Whiskeyschmuggler verurteilt und eingebuchtet wird.
Die nächsten Tage in der Prärie enden stets mit einem grandiosen Sonnenuntergang. Wir sitzen lange vor unseren Zelten, beobachten wie die untergehende Sonne den Himmel in leuchtende Farben taucht und lauschen den Kojoten, die uns aus der Ferne ein Gutenachtlied jaulen. Um uns herum wachsen nur genügsame Steppengräser und Kräuter, die allesamt den Anschein erwecken, als bräuchten sie nichts anderes als Sonne und Wind zum Überleben. Ein paar Tage folgen wir noch den kleinen abgeschiedenen Wegen, bis wir irgendwann zufällig an einem verwitterten Schild vorbei kommen, dass die Entfernung zur US-Grenze mit nur 30 Kilometern angibt. Wir haben lange überlegt, ob wir an dem Plan festhalten sollen, den Weg an die Ostküste komplett durch Kanada zu fahren. Weiter südlich durch die USA zu reisen war eigentlich nie ein Thema für uns. Doch auf unserer bisherigen Reise haben wir unzählige Motorradfahrer getroffen, die uns immer wieder dazu rieten, den Weg südlich der Grenze durch die Vereinigten Staaten zu nehmen, vor allem deshalb, weil in Sturgis, South Dakota, in Kürze die größte Motorradveranstaltung der Welt stattfindet. Jetzt, wo wir vor dem Schild stehen ist die Verlockung die Route zu ändern sehr groß. Wir kommen überein, dass spontane Entscheidungen die besten sind und besiegeln mit einem Handschlag unser neues Reiseziel. „Auf nach Sturgis!“, sagen wir und lassen Kanada noch am selben Tag hinter uns.
Nahe der Ortschaft Sherwood wollen wir die Staatengrenze zu den USA überqueren. Nachdem wir den Grenzbeamten glaubhaft versichert haben, keine Schusswaffen oder Drogen zu schmuggeln, dürfen wir einreisen. Entgegen aller Vorurteile, ist auch dieser Grenzübertritt in die USA wieder ein Kinderspiel und geht in kürzester Zeit von statten.
Auch an unserem ersten Abend in den USA verzichten wir bewusst auf den Luxus einer Hotelübernachtung. Wir schlagen unser Nachtlager wieder genau dort auf, wo es uns am besten gefällt. Auch wenn finanzielle Gründe beim wild Campieren oftmals eine große Rolle spielen, ist es doch so, dass Mutter Natur einfach nun mal die besten Lagerplätze bietet. Die meisten dieser Orte, an denen wir auf dieser Reise unsere Zelte aufgeschlagen haben, wären durch kein Hotelzimmer der Welt zu toppen gewesen. So auch in diesem Fall. Die Sonne steht schon tief, als wir etwas weiter südlich der Grenze auf einen Feldweg abbiegen, der sich schon nach kurzer Zeit irgendwo in der Einsamkeit verliert. Kein Haus, kein Auto und keine Menschen weit und breit. Auch Zivilisationsgeräusche sind keine mehr zu hören. Hier in North Dakota, so kommt es uns vor, ist die Einsamkeit noch einsamer als in Kanada. Warum die Einwohner North Dakotas ihrem Staat das Attribut „Land of the Big Sky“ verliehen haben – das „Land des großen Himmels“, das wird uns bewusst, als wir im rosaroten Lichtermeer der untergehenden Sonne in alle Richtungen bis zum Horizont blicken und dabei sogar die Krümmung der Erde erkennen können.
Am nächsten Morgen sind wir wie gewohnt früh auf den Beinen. Die Sonne taucht den Horizont gerade wieder in ein sanftes Licht, als wir den Aufbruch vorbereiten. Mit routinierten Griffen verschwinden Zelt, Schlafsack und Kochgeschirr wieder an ihrem dafür vorgesehenen Platz, ehe wir wieder im Sattel sitzen. Bevor wir die amerikanischen Präriesstaaten North- und South Dakota weiter erkunden, benötigen wir noch Proviant für die nächsten Tage. Der Weg führt uns daher kurze Zeit später zurück in die Zivilisation. In einem der sogenannten „Mega Stores“, wie in den USA palastartige Supermärkte genannt werden, wollen wird ein paar Dinge kaufen, auf die wir in Alaska und Kanada aus Kostengründen meistens verzichtet haben. Uns kommen fast die Tränen, als wir die Preisschilder der unterschiedlichen Waren betrachten. Einen solchen Preissturz hätten wir beim besten Willen nicht erwartet. Alles ist plötzlich so unglaublich günstig, als seien wir von Norwegen nach Albanien eingereist. Der Einkaufswagen quillt fast über, als wir zurück zu den geparkten Motorrädern kommen und partout nicht wissen, wo wir das ganze Zeug unterbringen sollen. Vollbepackt wie die Esel machen wir uns eine Weile später wieder auf den Weg.
Touristisch gesehen könnte man das nördliche der beiden Dakotas als einen „Weißen Fleck“ auf der Landkarte bezeichnen. Die meisten Reiseführer übergehen den Präriestaat stillschweigend und schenken ihre Aufmerksamkeit lieber den vielbesuchten Klassikern des amerikanischen Westens. Die Prärie, die sich über North Dakota erstreckt war lange Zeit nach Ankunft der Europäer nur Durchgangsgebiet für Goldsucher und Abenteuer. Aufgrund der Geschichten, die diese über das neue Land erzählten, strömten irgendwann landhungrige Rancher nach Westen, die sich in den Jagdgründen der Ureinwohner niederließen. Als nach vielen Auseinandersetzungen die Indianer und mit ihnen die Büffel aus den Great Plains verschwunden waren, war die Besiedelung nicht mehr aufzuhalten. In den 1880er Jahren schwappte dann eine riesige Einwanderungswelle aus Deutschland über das Land. Getrieben von dem Wunsch nach einem besseren Leben kamen sie zu tausenden in das verheißungsvolle Land. Alleine im Jahr 1882 verließen über eine viertel Millionen Deutsche das Kaiserreich. Nirgendwo sonst in Amerika ist seitdem der Anteil deutschstämmiger Bevölkerung so groß, wie in North Dakota. Hat im Landesschnitt etwa jeder vierte Amerikaner deutsche Wurzeln, so sind es hier knapp 50%. Ortschaften heißen Kiel, Hamburg, New Leipzig und selbst die Hauptstadt North Dakotas wurde nach dem deutschen Reichskanzler „Bismarck“ benannt. Man rechnete sich damals aus, durch diese Namensgebung, deutsches Kapital anzulocken (was jedoch misslang). Auch viele Feste tragen noch immer deutsche Namen. Neben dem landesweit sehr beliebten „Oktoberfest“ und „Kaffeeklatsch“ werden wir immer wieder auf Veranstaltungen aufmerksam, die den vielversprechenden Namen „German Schmeckfest“ tragen – eine Mischung aus Besäufnis und Fressgelage.“
Nach einer guten Woche in North Dakota überqueren wir die Grenze zum südlichen Nachbarstaat. Die Dunkle Silhouette der „Black Hills“ fällt uns schon von weitem ins Auge. Aus mehr als 100 Kilometern Entfernung erheben sich die „Schwarzen Berge“ über der Kurzgrasprärie. Schon die amerikanischen Ureinwohner fühlten sich von diesem Anblick angezogen. Cheyenne, Kiowa, Pawnees, Crow und schließlich die Sioux: Sie alle zog es in die heiligen Berge, um dort zu ihren Göttern zu beten. Über viele Generationen waren sie ungestört, bis irgendwann der weiße Mann, angelockt von Goldfunden in die Berge kam.
Wir schleifen Kurve um Kurve der Iron Mountains Road, bis wir irgendwann ganz plötzlich in vier steinerne Gesichter blicken. Gemeißelt in Granit, thronen die bedeutsamsten Präsidenten des Landes: Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln vor uns über die Landschaft. Mount Rushmore, eines der bekanntesten Ziele der USA, ist auch die touristische Haupteinnahmequelle South Dakotas. Knapp drei Millionen Besucher spülen jährlich 600 Millionen Dollar in die Staatskasse. Die Präsidentenköpfe dienten dem Stamm der Lakota als Inspiration für eine weitere Attraktion. Nur 15 Meilen entfernt am Highway 16 gelegen, entsteht das größte Denkmal, dass je einem Menschen gesetzt wurde: Wenn das „Crazy Horse Memorial“ irgendwann einmal fertig ist, wird es 170 Meter hoch und 200 Meter lang sein – so groß, dass die vier steinernen Nachbarn locker im Kopf des Pferdes Platz hätten, auf dem der ehemalige Oglala-Indianer Crazy Horse sitzt und mit seinem ausgestreckten Arm in die Black Hills deutet. Die Geste soll die steinerne Umsetzung seines berühmten Zitates sein: „Mein Land ist dort, wo meine Toten begraben liegen“.
Da das Projekt jedoch ausschließlich durch Spenden finanziert wird, gehen die Arbeiten nur schleppend voran. Knapp sechzig Jahre nach der ersten Sprengung ist lediglich das Gesicht von Crazy Horse vollendet. Als wir vor dem unfertigen Kunstwerk stehen fragen wir uns, ob es jemals fertig werden kann. Wie ein paar verlorene Ameisen wirken die Arbeiter, die mit Presslufthämmern an dem riesigen Berg modellieren. Wann man mit der Beendigung der Arbeiten rechnen könne, frage ich einen indianischen Tourguide. Doch der sympathische alte Mann zuckt nur mit den Schultern. Eigentlich sei das doch gar nicht mehr so wichtig, sagt er. Wichtiger sei es doch vielmehr, dass hier ein Ort der Versöhnung geschaffen wurde.
Als im Jahr 1874 ganz in der Nähe beachtliche Goldfunde vermeldet wurden, strömten tausende von Glücksrittern in die Berge. Quasi über Nacht wurden riesige Zeltlager errichtet und ganze Städte aus dem Boden gestampft. Die größte von ihnen, die bis heute jedem Wild-West-Klischee entspricht, heißt Deadwood. In der sehr lebendigen Stadt lebten einst so schillernde Figuren, wie der Revolverheld „Wild Bill Hickok“ oder „Calamity Jane“ (dt. Katastrophen Jane) eine Goldsucherin, Kunstschützin, Pokerspielerin und Prostituierte, die dafür bekannt war, mehr Schimpfwörter zu kennen, als irgendwer sonst im Wilden Westen. Der „Old Saloon Nr. 10“, eine der legendärsten Kneipen der USA, lockt noch heute viele Besucher an den Tresen. Der Saloon ist wirklich einzigartig. Hier wurde vor über 100 Jahren Wild Bill während eines Pokerspiels rücklings erschossen. Weil er dabei das Blatt, bestehend aus zwei Assen und zwei Achten in der Hand hielt, ist dieses bei Pokerspielern bis heute als „Dead Mans Hand“ ein Begriff. Da zur selben Zeit, in der wir in Deadwood verweilen, ein großes Rodeo stattfindet und in ein paar Tagen die „Bike Rallye“ beginnt, ist das Publikum hollywoodreif. Cowboyhüte und Lederkutten dominieren das Bild auf der Tanzfläche, auf der abwechselnd zu Johnny Cash oder AC/DC getanzt wird. Während ich einen Platz an der langen Holztheke vorziehe hat meinen Freund Alain das Tanzfieber gepackt. Köstlich amüsiert beobachte ich, wie er eine Biker-Braut durch den Raum schiebt, die so aussieht wie ein Double von Matthias Reim.
Wir erreichen Sturgis am darauf folgenden Tag. Knapp eine Woche bevor das Mega-Motorrad-Event beginnt donnern bereits tausende Zweizylinder „Made in USA“ durch die Straßen des 6000-Seelen Ortes. Zum nun schon 72. Mal findet die „Sturgis Bike Rally“ in diesem Jahr statt. Begonnen hat das Ganze im Jahr 1938, als ein Besitzer eines Motorrad-Ladens und Mitglied des Motocross Clubs „Jackpine Gypsies“ ein Treffen organisierte, an dem lediglich 19 Fahrer teilnahmen. Zum Programm zählten damals unter anderem Wanddurchbrüche, Schanzensprünge, Beschleunigungsrennen und Hill Climbing. Einige dieser Veranstaltungen sind noch heute fester Bestandteil der „Sturgis Bike Ralley“, zu der mittlerweile bis zu 700.000 Biker pro Jahr pilgern.
Zehn Tage lang gelten in diesem riesigen Motorrad-Zirkus andere Gesetze. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben. Erwachsene Männer üben sich im Zwergen-Weitwurf, Schlangenfrauen räkeln sich kaum bekleidet auf den vielen Tresen und die kleine Stadt platzt vor lauter Motorrädern fast aus allen Nähten. Mich erstaunt dabei, wie ruhig und friedlich es während der ganzen Zeit trotz der vielen Menschen und des strömenden Alkohols bleibt. Ein Grund dafür ist sicherlich das massive Sicherheitsaufgebot. Sämtliche Polizisten, die in der Kleinstadt für Ordnung sorgen, sehen aus wie Türsteher oder Profiboxer. Die wichtigste Regel, die man beachten muss, wenn man mit dem Motorrad über die Mainstreet fahren möchte ist es, an allen Stoppschildern anzuhalten, wobei – ganz wichtig – beide Füße für einen Moment den Boden berühren müssen. Hält man sich nicht an diese eiserne Regel, dann ist es so sicher wie das Amen in der Kirche, dass man ein Ticket bekommt. So manch eine Gesetz und auch die Vorstellung Verkehrssicherheit sind für deutsche Maßstäbe gewöhnungsbedürftig. So ist es in großen Teilen des Landes gestattet, ohne Helm zu fahren. Eine Sonnenbrille hingegen ist Pflicht. Wir sehen zahlreiche Motorradfahrer, die ohne Kopfschutz unterwegs sind, die aber glauben ihren Leichtsinn durch das Tragen neonfarbener Warnwesten zu minimieren.
Mitten in dem Getümmel lernen wir Vicky und John kennen, zwei Biker aus Connecticut. Wir verstehen uns auf Anhieb blendend und trinken zusammen Bier im berühmten „Knuckle Head Saloon“. Aus zwei Fremden werden sehr schnell richtig gute Freunde, die wir auf dieser Reise noch öfter sehen werden. Am selben Tag werden auch unsere Übernachtungspläne über den Haufen geworfen. Eigentlich hatten wir geplant, auf einem der zahlreichen Campingplätze rund um die Stadt unterzukommen, die für dieses Event kurzfristig eingerichtet wurden. „Connecticut John“, wie er überall genannt wird, besteht jedoch darauf, uns bei seinen Freunden unterzubringen. Wayne, ein 80jähriger Hüne im Totenkopf-T-Shirt und seine zierliche, immer gut gelaunte Frau Betty, empfangen uns kurze Zeit später auf ihrem Anwesen. Kurzerhand haben sie ein riesiges Barbecue für uns organisiert. Auf ihrem riesigen Grundstück, wo schon Teile des Films „Der mit dem Wolf tanzt“ gedreht wurden, schlagen wir unser Lager auf.
Nach zehn Tagen, kurz bevor die Bike Rally endet, verlassen wir Sturgis wieder. Schweren Herzens verabschieden wir uns von unseren großartigen Gastgebern mit dem Versprechen, wiederzukommen. Wir fahren noch einmal an den in Stein gehauenen Präsidentenköpfen vorbei und folgen dem nicht enden wollenden Lindwurm aus Motorradfahrern in Richtung Custer State Park. Die Streckenführung dorthin ist einzigartig. So als hätte man eigentlich ein Fahrgeschäft für einen Freizeitpark geplant, um dann doch eine Straße zu bauen, schlängelt sich der Hgw. 87 durch Tunnel und über hölzerne Brücken durch die Berge und Täler der östlichen Black Hills. Es ist schon ein imposanter Anblick, wenn vor einem hunderte Motorräder fahren, die auch im Rückspiegel hinter einem kein Ende nehmen wollen.
In sanften Schwüngen windet sich die Straße weiter in Richtung Südosten. Nach einer Weile ändert sich das Landschaftsbild wieder komplett. Wald wird wieder zu Prärie und Hochplateau zu weiter Ebene. Als letztes echtes Highlight erreichen wir die sogenannten „Badlands“, die mich an die Canyons in Utah erinnern. Mit scharfkantig aufragenden Felsformationen und erodierten Sandsteinbergen, sind die Badlands das größte geschützte Präriegebiet in den Vereinigten Staaten. Die ersten streng gläubigen Siedler nannten es „Schlechtes Land“, da sie die undurchdringlichen Felslabyrinthe für die Hölle hielten, in der das Feuer erloschen war.
Nachdem wir den Missouri River überquert haben, schlagen wir südlich der Stadt Sioux Falls, kurz vor der Grenze zu Iowa unser Zelt inmitten der Prärie auf. Wir genießen ein letztes Mal diese Weite und Stille, ehe wir weiter zu den Großen Seen fahren. William Least Heat-Moon, ein indianischer Reiseschriftsteller, brachte es über die Prärie einmal treffend auf den Punkt: “Eines ist sicher: will man das wahre Amerika kennenlernen, dann muss man wenigstens einmal in der Prärie gestanden haben, die vom Ellenbogen bis zum Horizont reicht, denn in dieser unendlichen Grasslandschaft ist alles enthalten, was das Herz Amerikas ausmacht – Himmel, Weite und Licht.“ Man muss es wirklich erlebt haben, um seine Worte zu verstehen.